Raphael Georg Kiesewetter

*29. August 1773 in Holleschau, Mähren (Holešov, Tschechien)
†1. Januar 1850 in Baden bei Wien

Raphael Georg Kiesewetter war ein Musikhistoriker und Musiksammler, der mit Fortunato Santini einen regen Musikalienaustausch betrieb, welcher besonders gut durch ein erhaltenes Rechnungsbuch zwischen den beiden Sammlern dokumentiert ist. Für Santini war Kiesewetter einer der wichtigsten Tauschkontakte. Die Handschriften, die Santini von ihm erhielt, bedeuteten eine enorme Bereicherung für seine Sammlung.

Nach dem Studium der Philosophie in Ölmütz nahm Kiesewetter ein Jura-Studium in Wien auf. Parallel dazu studierte er Fagott und Gitarre. 1794 wurde Kiesewetter Kanzlist bei der Reichsarmee und verließ zunächst die Stadt. 1801 kehrte er zurück nach Wien und begann eine Beamtenlaufbahn beim Hofkriegsrat. Von 1803 bis 1804 studierte er Generalbass bei Johann Georg Albrechtsberger und Kontrapunkt bei dessen biographisch nicht näher bekannten Schüler Hartmann. 1815 wurde Kiesewetter Kanzlei-Direktor beim Hofkriegsrat. Die Bezeichnung „Consigliere Kiesewetter“ in etlichen Quellen in der Santini-Sammlung verweist auf seine Karriere bei dieser militärischen Verwaltungsbehörde. 1843 wurde Kiesewetter außerdem in den erbländischen Adelsstand mit dem Titel „Edler von Wiesenbrunn“ erhoben. Auch dieser Titel begegnet in Handschriften Santinis. Kiesewetters lange Karriere beim Hofkriegsrat fand erst 1845 mit seiner Pensionierung ein Ende.

Neben diesem durchaus beachtlichen Karriereweg widmete sich Kiesewetter gewissermaßen in seiner „Freizeit“ voll und ganz der Musik, sei es als Musikforscher, als Sammler oder im musikpraktischen Bereich. Schon seit seiner Studienzeit war Kiesewetter als praktischer Musiker (Gesang und Querflöte) tätig und gefragt, so etwa bei den vom Fürsten von Trauttmansdorff protegierten „Adeligen Liebhaberkonzerten“, bei denen 1808 Joseph Haydns Schöpfung in Anwesenheit des Komponisten aufgeführt wurde und Kiesewetter im Programm besondere Erwähnung fand. Im Jahr 1812 war Kiesewetter an der Gründung der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde maßgeblich beteiligt. Bei den in diesem Zusammenhang stattfindenden Wohltätigkeitskonzerten wirkte er zudem als Basssolist bei Aufführungen von Georg Friedrich Händels Alexanderfest mit. Von Anfang an war er ein führendes Mitglied der im Jahr 1814 formell gegründeten Gesellschaft, bis 1826 administrativer Direktor und von 1821 bis 1843 Vizepräsident und damit hauptverantwortlicher Leiter. Dadurch stand er auch in direktem Kontakt mit zeitgenössischen Komponisten wie Ludwig van Beethoven und Franz Schubert.

Eine wichtige musikpraktische Betätigung Kiesewetters war die Ausrichtung eigener privater „Historischer Hauskonzerte“, bei denen vornehmlich Vokalwerke des 16.–18. Jahrhunderts dargeboten wurden. Eingeladen wurden interessierte Musikfreunde, Sammler, Diplomaten, Geistliche, Schriftsteller und natürlich Komponisten, wie etwa Schubert, Frédéric Chopin oder Otto Nicolai. Größere und instrumental begleitete Aufführungen fanden in der Augustiner Hofkirche statt. Kiesewetter war außerdem selbst Mitglied in diversen Zirkeln, unter anderem bei Ignaz von Sonnleithner, wo er vermutlich zum ersten Mal Schubert begegnete. Schubert nahm dann wahrscheinlich ab 1823 bei Kiesewetters eigenen Hauskonzerten Teil und hatte vor allem Kontakt zu dessen Tochter Irene, für die er auch Widmungswerke komponierte (etwa die Kantate für Irene Kiesewetter).

Durch die Hochzeit mit Anton Prokesch von Osten verschaffte Irene Kiesewetter ihrem Vater weitere gute Verbindungen in hohe Kreise. Prokesch war ein angesehener Diplomat und General, ab 1830 Ritter, 1845 Freiherr und 1871 Graf von Osten. Auch war er Textdichter, sammelte offenbar selbst Musikhandschriften und tritt in einigen Überlieferungen zudem als Schreiber in Erscheinung. Santini selbst hatte zumindest kurzzeitig in den 1840er oder 1850er Jahren Kontakt zu Prokesch, wie folgender Versandvermerk in einer Eigenkomposition Santinis nahelegt: „Pour le Chevalier De Prokesh L. F. de S. M. I. R. A. [= „Luogotenente Feldmaresciallo de Sua Maestà Imperiale e Reale Apostolica“]“ (Ab 1848 war Prokesch Feldmarschallleutnant, somit ist der Versandvermerk frühestens in diesem Jahr gemacht worden.)

Den Aufbau einer Musiksammlung begann Kiesewetter im Jahr 1816. Im Austausch mit namhaften Musikforschern und -sammlern, Komponisten und Diplomaten gelang es ihm, diese zu einem beachtlichen Bestand auszubauen. Neben Santini sind Tauschpartner wie Georg Pölchau, Anton Friedrich Justus Thibaut, Auguste Bottée de Toulmon, Siegfried Wilhelm Dehn, Giuseppe Baini, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann oder Aloys Fuchs zu nennen. Letztgenannter arbeitete sehr eng mit Kiesewetter zusammen und erbte nach dessen Tod seine Musikbücher, seine Briefwechsel und die Stimmbücher, während Kiesewetters Praktikasammlung in den Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek überging (Fonds Kiesewetter).

Für die Erstellung von Abschriften für seine Tauschpartner engagierte Kiesewetter auch Kopisten. In seinen eigenen Abschriften ging Kiesewetter sehr gewissenhaft vor und machte Änderungen und Ergänzungen stets kenntlich, oftmals mit einer pinkfarbenen Tinte, und legte seine Vorgehensweise in Anmerkungen oder Vorwörtern dar, um – wie er es selbst formulierte – „über das Verfahren bei Anfertigung meiner Abschriften […] Rechenschaft abzulegen“ (Raphael Georg Kiesewetter: Galerie der alten Contrapunctisten, Wien 1847, Vorrede). Es ging also nicht nur um den wissenschaftlich fundierten Umgang mit der Quelle, sondern darüber hinaus auch um dessen Darlegung und Transparenz den Empfängern gegenüber. Die dadurch gewährleistete Nachvollziehbarkeit von editorischen Eingriffen ist als Vorläufer einer historisch-kritischen Musikeditionspraxis zu sehen. Auch die von Kopisten erledigten Abschriften unterzog Kiesewetter oftmals anschließend seinem kritischen Blick und versah sie mit Anmerkungen und Ergänzungen.

Beispiele hierfür finden sich auch in Handschriften aus Santinis Bestand, die somit spannende Zeugnisse für Kiesewetters Pioniergeist im Bereich der Musikedition darstellen: So gab Kiesewetter in einer durch einen Kopisten angefertigten Abschrift der Motette Absterge Domine delicta mea von Thomas Tallis die Quelle sowie die durch ihn vorgenommenen Änderungen an, nämlich die Transposition um eine Quarte nach oben, die dadurch geänderte Tonart und Vorzeichenanzahl sowie die zum Teil modernisierten Notenschlüssel für den praktischen Gebrauch: 

„Questo motetto del già celebre Contrappuntista inglese Tomaso Talis presso il Hawkins si trova stampato in partitura, una quarta più basso, colla segnatura di due bb, e nelle chiavi seguenti: […] Io l’ho trasportato alla 4 sopra e nelle chiavi usitate per facilitarne la lettura e se piace per più commoda esecuzione. Kiesewetter“. 

 

Kiesewetter gab darüber hinaus auch die ursprünglichen Notenschlüssel an, also ganz so, wie es heute in einer historisch-kritischen Ausgabe erforderlich ist. Die simultane Ausrichtung auf Musikforschung und -praxis ist noch heutzutage das Anliegen derartiger Ausgaben.

Bei seiner lateinischen Bearbeitung der Motette Hear the voice and prayer of thy servants von Tallis gab Kiesewetter ebenfalls die Quelle an, Charles Burneys General History of Music, und bemerkte ferner, dass er für den lateinischen Text den Psalm 5 gewählt sowie das Stück um eine Quarte nach oben transponiert habe. Die Stimmbezeichnungen übernahm er auf Englisch aus der Vorlage und übersetzte sie zusätzlich ins Lateinische. Den kurios anmutenden Zusatz bei der Bassstimme „This Base is for Children.“ übernahm er vorlagengetreu, brachte jedoch im Sinne einer kritischen Fußnote sein Unverständnis über diese Angabe zum Ausdruck: „Bassus pro pueris. !!?“

In einem Autograph von Alessando Scarlattis Olimpia-Kantate (heute Fonds Kiesewetter), das er von Santini erhalten hatte, fügte Kiesewetter einen Vermerk über die Echtheit des Manuskripts hinzu, in dem er auf einen von ihm durchgeführten Vergleich der Handschrift des Komponisten in anderen Originalen verwies und sich somit gewissermaßen mit seiner wissenschaftlichen Expertise dafür verbürgte – in wissenschaftlich-kritischer Hinsicht eine Art Quellenbewertung:

„Attesto io sottoscritto lʼautenticità del presente foglio come Originale di Alessandro Scarlatti, essendo lʼultimo dʼuna Cantata, che si trova nella mia collezione di musica, segnata dalla mano dellʼ Autore col suo nome e parafo ordinario, confrontata con altri autografi del medesimo è riconosciuta per lʼidentità del carattere. Vienna li 16. Aprile 1832. R. G. Kiesewetter Cons. aul. di S. M. I. R.“. 

Wichtiger Baustein für seine Entwicklung und Bedeutung als Musikforscher waren außerdem Kiesewetters musikwissenschaftliche Publikationen, von denen sich einige in der Santini-Sammlung befinden. Ein paar davon – zum Teil auch mit persönlichen Widmungen – erhielt Santini direkt von seinem Tauschpartner aus Wien, wie auch aus dem Rechnungsbuch zwischen Santini und Kiesewetter hervorgeht. Kiesewetters erste Publikation war ein in der Allgemeinen musikalischen Zeitung erschienener Aufsatz mit dem Titel Ueber den Umfang der Singstimmen in den Werken alter Meister […], der sich vor allem mit aufführungspraktischen Aspekten, insbesondere der Transposition von Chiavetten beschäftigte – im Übrigen ein Terminus, der erstmalig von Kiesewetter verwendet wurde. In seinen Hauskonzerten mit aufführungspraktischen Fragen und ungelösten Problemen konfrontiert zu sein, veranlasste Kiesewetter zu eigenen, wegweisenden Forschungen in diesem Bereich, die für die Musikpraxis bis heute Relevanz haben. Auch in an Santini gesandten Handschriften finden sich mitunter Hinweise auf eine von Kiesewetter durchgeführte Transposition, wie etwa in den bereits genannten Beispielen von Tallis.

Von großer Bedeutung für seine internationale Anerkennung als Musikhistoriker war Kiesewetters 1829 veröffentlichte Schrift Die Verdienste der Niederländer um die Tonkunst, die im Rahmen eines Preisausschreibens des Königlichen Niederländischen Instituts für Wissenschaften (Kongklijk-Nederlandische Institut van Wetenschappen) entstand und für die er eine Goldmedaille verliehen bekam. Den Druck, der auch François-Joseph Fétisʼ Aufsatz zu dem Thema beinhaltet, erhielt Santini mit persönlicher Widmung Kiesewetters in lateinischer Sprache: „Admodum Reverendo Domino Fortunato Santini hunc librum in tesseram singularis venerationis nec non in sui memoriam offert Dissertationis prioris autor R. G. Kiesewetter Vienna 18. Aprilis 1832“. Als erste grundlegende musikhistorische Gesamtdarstellung ist zudem  Kiesewetters Geschichte der europäisch-abendländischen Musik von 1834 zu nennen, zugleich seine erste Buchpublikation. Dieses Werk befindet sich zumindest heute nicht mehr in der Santini-Sammlung. Dass sich Santini aber inhaltlich damit auseinandersetzte, spiegelt sich in seinem 17-seitigen Manuskript Le Epoche della Musica Armonica zur europäischen Musikgeschichte wider, in dem er sich an Kiesewetters Einteilung orientierte.

Kiesewetters zweite Buchpublikation Ueber die Musik der neueren Griechen nebst freien Gedanken über altegyptische und altgriechische Musik von 1838 mit Eintragung von Santinis Namen und Datierung auf den 8. April 1839 befindet sich dagegen noch heute im Bestand der Santini-Sammlung. Wegweisend für die Ethnomusikologie war wiederum Kiesewetters Die Musik der Araber von 1842, für das sein Schwiegervater Prokesch von Osten, der in den 1830ern und 1840ern Gesandter in Athen war, als wichtiger Quellenvermittler fungierte und dem das Werk auch gewidmet ist. Als letztes Beispiel sei Kiesewetters kurze Autobiographie genannt, die er für seine Aufnahme als korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien verfasste, die dann 1849 kurz vor seinem Tod auch erfolgte. Etliche weitere internationale Ehrenmitgliedschaften zeugen von Kiesewetters Status. So wurde er, wie auch Santini, zum Ehrenmitglied der Accademia di Santa Cecilia in Rom ernannt, in Abwesenheit am 23. Juni 1840.

Literaturhinweise

  • Ammendola, Andrea und Schmitz, Peter: „Dokumente aus der Santini-Sammlung und dem Universitätsarchiv Münster“, in: Sacrae Musices Cultor et Propagator. Internationale Tagung zum 150. Todesjahr des Musiksammlers, Komponisten und Bearbeiters Fortunato Santini, hrsg. von Andrea Ammendola und Peter Schmitz, Münster 2013, S. 300–353, speziell der Abschnitt „Musikalienaustausch mit Raphael Georg Kiesewetter“, S. 311–317.
  • Kier, Herfrid: Art. „Kiesewetter, Raphael Georg“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart online.
  • Kier, Herfrid: Raphael Georg Kiesewetter (1773–1850). Wegbereiter des musikalischen Historismus (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 13), Regensburg 1968.

Verfasser: Michael Werthmann

28. September 2022

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