Familie Stuart

In Widmungen und Versandvermerken in Eigenkompositionen Fortunato Santinis taucht häufig eine bestimmte englische Adelsfamilie auf: die Familie Stuart und hier insbesondere die Marchioness of Bute – oder, wie Santini sie meistens bezeichnete, Lady Bute. Die gebürtige Frances Coutts (1773–1832), Tochter des Bankiers Thomas Coutts, Gründer des bis heute existenten Londoner Bankhauses Coutts & Co, wurde durch die Hochzeit mit John Stuart, 1st Marquess of Bute in den Adelsstand erhoben und erhielt so den Titel „Marchioness“. Ihre Kinder waren Lady Frances Stuart (1801–1859) und Lord Dudley Coutts Stuart (1803–1854). Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1814 zog Lady Bute mit ihrem Sohn Dudley (und vermutlich auch ihrer Tochter Frances) zunächst nach Neapel. Wie lange sie dort ansässig war, ist nicht bekannt. Vieles spricht dafür, dass sie abwechselnd in England und Italien war. Neapel scheint neben Rom immer wieder eine Station der Familie gewesen zu sein.

 

Santini lernte Lady Bute spätestens 1820 kennen, aus dieser Zeit stammt die erste Erwähnung in einer Handschrift Santinis, einer Komposition zur Ankunft ihres Sohns Dudley in Rom mit dem Titel Dialogo tra Madre e Figlio. Offenbar entstand eine mehrere Jahre währende, gute Verbundenheit. Auch 1822 war Lady Bute in Italien, als ihr Vater in England verstarb und Santini aus diesem Anlass eine Komposition verfasste: Hark they wispers über einen Text von Alexander Pope („The Sting of Death“). 1826 war sie wiederum in London, wie aus einer weiteren Handschrift hervorgeht („sent to the Bute in London 1826“). Auch 1829 war Lady Bute in ihrem Heimatland, Felix Mendelssohn Bartholdy  berichtete während seines Englandaufenthalts in diesem Jahr in seinen Briefen von ihr (1. Mai und 19. Juni) und schien Kontakte zu ihr zu pflegen.  Die 1832 verstorbene Lady Bute wurde später in einem Nachruf auf ihren Sohn als eine „lady of utmost sweetness of disposition, yet one who always acted on the highest and noblest sentiments (The Gentleman’s Magazine, Januar 1855, S. 79) charakterisiert.

 

Lady Butes Sohn Lord Dudley studierte in Cambridge und machte seinen Abschluss im Jahr 1823. Er heiratete Christine Bonaparte, eine Nichte Napoleons, 1824 in Rom – zunächst heimlich, da diese zu diesem Zeitpunkt noch verheiratet war. Ab den 1830ern war er als Member of Parliament in England tätig. Seine Schwester Lady Frances heiratete 1823 den einer englischen Hochadelsfamilie angehörigen Dudley Ryder und erhielt so den Titel „Viscountess Sandon“, der auch in einigen Handschriften Santinis zu finden ist. Santini hatte offenbar zu beiden Kontakt.

 

Auch andere prominente Romreisende, zu denen Santini Beziehungen pflegte, waren mit den Sandons befreundet. Wilhelm Hensel lernte den Viscount 1825 in Rom kennen und porträtierte ihn und seine Frau, ebenso auch Lady Bute. Die Sandons waren außerdem mit der Familie Bunsen befreundet, 1826 wurde Lady Sandon Patentante von deren Tochter Frances Helene. Während seines Londonaufenthalts 1829 hatte auch Mendelssohn – ein Empfehlungsschreiben seines zukünftigen Schwagers Hensel im Gepäck – mehrfach Kontakt mit Lord Sandon und berichtete in seinen Briefen davon, dass dieser ihn mit ins Parlament nahm oder dass sie gemeinsam die Grosvenor Gallery besuchten. Auch von Seiten Mendelssohns Schwester Fanny Hensel schien ein Kontakt über ihren Ehemann bestanden zu haben. Während ihrer Italienreise erwähnte sie in einem Brief vom 2. Dezember 1839 die Sandons, die sich zu dieser Zeit demnach in Rom aufhielten und im Begriff waren, nach Neapel zu reisen.

 

Santini widmete oder schickte der Lady Bute und ihrer Tochter Lady Stuart bzw. Lady Sandon mehrere seiner Kompositionen. Dies geht aus Vermerken in seinen eigenen Exemplaren hervor. Die an die Widmungsträgerinnen versandten Exemplare sind nicht überliefert. Neben den bereits genannten Zueignungen sind drei Widmungswerke für Lady Sandon zu nennen. Bei zwei Gelegenheiten ließ Santini ihr aus Anlass ihres Geburtstags eine Komposition zukommen: Sacro al tuo merto è il giorno  und Sempre belle e sempre chiare. Letztere schien eine von Santini sehr gern verwendete Geburtstagskomposition zu sein. Die Vermerke in seinem Exemplar legen nahe, dass er sie über mehrere Jahrzehnte an diverse Jubilarinnen und Jubilare verschickte. Schließlich widmete Santini Lady Sandon ein Te Deum zur Geburt ihres Kindes. Seine Handschrift ist auf das Jahr 1827 datiert. Im gleichen Jahr bekam Santini von Lady Sandon einen Notendruck mit Anthems von William Croft geschenkt, wie Santinis Vermerk auf dem Titelblatt „From Lady Sandon 3 July 1827“ offenbart – vermutlich als Reaktion auf und Dank für die zugeeignete Komposition. Das von ihrem Ehemann Lord Sandon bereits im April 1826 („by Lord Sandon the 26th of April 1826“) an Santini geschickte einzelne Anthem „I am the resurrection and the life saith the Lord“ entstammt wohlgemerkt ursprünglich dem ersten Band dieser Sammlung (auch diesen besaß Santini).

 

Zu den expliziten Widmungen an Lady Bute und Lady Sandon kommen einige Werke Santinis hinzu, bei denen in seinem Exemplar lediglich Versandvermerke zu finden sind. So schickte er etwa alle Nummern seiner während seines Aufenthaltes in Ferrara entstandenen Sammelhandschrift 9 Duetti a 2. Canti con Piano Forte an Lady Bute, entsprechende Vermerke wie „For the Bute copied“ oder „Copied for the same“ belegen dies. Auch die Tochter bekam diverse Kompositionen Santinis zugeschickt. In mehreren seiner Manuskripte finden sich Eintragungen wie etwa „sent to Lady Sandon“.

 

In den meisten Fällen sind die gewidmeten oder versandten Werke für zwei Sopranstimmen und Klavierbegleitung komponiert (Werkgruppe der weltlichen Duette), also womöglich für die eigene Interpretation vorgesehen. Von einer „standesgemäßen“ dilettantischen musikpraktischen Beschäftigung Lady Butes und ihrer Tochter und der Betätigung in eigenen Musikzirkeln bzw. Salons in England oder in Italien ist wohl auszugehen. Allein der Kontakt zu Santini zeugt von einem gesteigerten Interesse an Musik. Sicherlich gehörte die adelige Familie auch zu jenen Kreisen, die im Rahmen einer Bildungsreise in Rom die Sixtinische Kapelle in der Karwoche besuchten, um dem Miserere von Gregorio Allegri zu lauschen. Die durchaus belustigt wirkenden Beschreibungen Otto Nicolais aus den 1830er Jahren über den „Concertsaal“ Sixtinische Kapelle, den nach seiner Beobachtung „größtentheils Fremde, besonders Engländer“ besuchten, enthalten darüber hinaus einen Passus, der sich genau mit solch gut betuchten englischen Besucherinnen, wie Lady Sandon eine gewesen sein könnte, auseinandersetzt:

 

„Die hübschen Engländerinnen erscheinen in eleganter Toilette und ihre schönen seidenen Stoffe von schwarzer Farbe heben nur umso mehr die blendende Weiße ihrer Schwanenhälse und lassen die Lieblichkeit ihrer blauen Augen und blonden Locken umso besser hervortreten“ (Otto Nicolai: „Italienische Studien. Ueber die Sixtinische Capelle in Rom“, in: Neue Zeitschrift für Musik 1837, S. 44)

 

Obwohl Lady Bute wohl keine regelrechte Tauschpartnerin Santinis, sondern vielmehr Empfängerin seiner Eigenkompositionen und Widmungen war, hatte er ihr dennoch eine besondere Handschrift zu verdanken, die sie ihm möglicherweise aus Dank für die diversen Zueignungen schenkte: das Requiem von Giovanni Paisiello, in einer 1822 in Neapel entstandenen, vom Autograph kopierten Abschrift („Cavata dallʼoriginale“). Das Original Paisiellos befindet sich heute in der Biblioteca del Conservatorio di musica San Pietro a Majella in Neapel. Vollständige Abschriften sind außer der Münsteraner Quelle nicht überliefert. Santini selbst vermerkte in der Handschrift, woher er sie erhalten hatte: „Gift of the Marchioness of Bute“. Auch einen Druck mit 12 Anthems von James Kent erhielt Santini von der englischen Lady und notierte „From Lady Bute“ auf dem Titelblatt. Darüber hinaus schrieb er in der Partitur einen kurzen biografischen Text zu dem aus Winchester („Città di Wincester“) stammenden Komponisten nieder.

 

Widmungswerke Santinis

Literaturhinweise

  • Datenbankeintrag „Frances Stuart, Marchioness of Bute“, in: Geni.
  • Datenbankeintrag „Lady Frances Stuart, Countess of Harrowby“, in: Geni.
  • Hensel, Fanny: Briefe aus Rom an ihre Familie in Berlin 1839/1840, hrsg. von Hans-Günter Klein, Wiesbaden 2002.
  • Mendelssohn Bartholdy, Felix: Sämtliche Briefe Band 1. 1816 bis Juni 1830, hrsg. von Juliette Appold und Regina Back, Kassel 2008.

Verfasser: Michael Werthmann

28. September 2022

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