Geschichte und Bestand

Zur Ausstellung von Büchern der historischen Bibliothek St. Lucia Harsewinkel in der Sparkasse Harsewinkel vom 30. März bis 7. April 1995(1)

von Stefan J. Dietrich
Habent sua fata libelli: Bücher haben ihre Schicksale. Als ich im Januar vergangenen Jahres meinen alten Studienfreund Stefan Peitzmann in Harsewinkel besuchte, zeigte er mir bei dieser Gelegenheit die alten Bücher auf dem Sakristeiboden. Dass hier wahre "Schätze" schlummerten, konnte damals niemand ahnen, aber als Liebhaber alter Bücher dauerte mich deren Zustand und Lage: dick verstaubt fristeten sie ihr feuchtes Dasein eng hinter- und übereinander gestapelt in einem wurmstichigen Regal an der Außenmauer neben dem großen Fenster. So empfahl ich meinem Freunde dringend, die Bibliothek andernorts trocken unterzubringen und möglichst auch katalogisieren zu lassen, wonach über eine sinnvolle Verwendung diskutiert werden könne. Der Mensch denkt, Gott lenkt: durch unvorhersehbare Umstände konnte ich mich im Dezember selbst dieser Aufgabe widmen.

Die Bücher stammen aus dem Besitz des letzten Priors, dem Stellvertreter des Abtes, von Marienfeld Arnold Boemken.(2) Dieser wurde den 16. Juli 1755 als Johann Franz Anton Boemken in Wiedenbrück geboren - Arnold war sein Ordensname. Der geistliche Beruf scheint in der Familie keine Seltenheit gewesen zu sein: Ein Hermann Boemken(3) (1711-1734), der ebenfalls aus Wiedenbrück stammte - vielleicht ein Onkel ? -, war bereits Zisterzienser in Marienfeld. Einige Bücher zeigen noch seinen Namenszug. Ein Bruder Arnolds, Caspar Joseph Boemken, war Pastor in Dolberg.(4) Nach dem Studium erhielt Arnold am 27. März 1782 die Priesterweihe. 12 Jahre später begann er in Marienfeld Karriere zu machen. Im Oktober 1794 wurde er Lektor der Theologie, d.h. er übernahm im Rahmen des Hausstudiums theologische Vorlesungen. So fand sich zwischen den Büchern ein 685 Seiten umfassendes Manuskript Boemkens mit dem Titel  "Tractatus de sacramentis" (Abhandlung von den Sakramenten). Aufgrund dieser Lehrtätigkeit nannte sich Boemken mitunter auch "Professor". Ein knappes Jahr später übertrug man ihm das Amnt des Klosterarchivars und am 22. Mai 1802 wurde er schließlich zum Prior von Marienfeld gewählt. Wäre das Kloster im Jahr darauf nicht der Säkularisation zum Opfer gefallen und aufgelöst worden, Arnold hätte es zum Abt bringen können. Statt dessen zog er sich, nachdem er noch eine Hilfspriesterstelle in Harsewinkel bekleidet hatte, in seinen Geburtsort Wiedenbrück zurück. Dort verfasste er am 17. Juli 1819 ein eigenhändiges Testament, das als Bestandteil des Pfarrarchivs Harsewinkel im Diözesanarchiv Münster verwahrt wird.(5) Bemerkenswert ist, dass der ehemalige Zisterzienser darin seiner Haushälterin, der "Jungfer" Marianne Wöbker, auf Lebenszeit den Nießbrauch "von allen meinen sowohl Beweg- als unbeweglichen Gütern, als: Hauß und Hof, Garten […], alles Haußgeräthe, Barschaften, allen außenstehenden Geldern, kurz: von allem, wie dieses auch Namen haben möge, und nichts ausgenommen" einräumte. Er setzte "auch soviel Vertrauen auf ihre Redlichkeit, dass ich nicht einmal will […], dass nach meinem Tode über mein hinterlassenes Vermögen ein Inventarium errichtet werde".(6) Die Haushälterin sollte auch nicht verpflichtet sein, Güter, welche die Zeit verschleiße oder verbrauche, aus ihrem Vermögen zu ersetzen, noch Reparaturen am Wohnhaus auf eigene Kosten durchführen zu lassen, sondern solches sollte ausschließlich aus der Erbmasse bestritten werden. Die einzige Verpflichtung der Marianne Wöbker bestand darin, jährlich 8 Messen für die Familie Boemken lesen zu lassen, eine Verpflichtung, die nach ihrem Tode gegen die Zahlung von 100 Reichstalern auf die Dechanei von Harsewinkel überging.(7) Für die Zeit außerordentlich soziale Verfügungen also, um die noch so manche Pfarrhaushälterin unserer Tage die Marianne Wöbker beneiden dürfte. Der entscheidende Passus steht aber in & 5 des Testamentes: "Vermache ich gedachter Dechaney zu Harsewinkel nach meinem Ableben meine vorhandenen Bücher zum Gebrauch eines zeitlichen Dechantes mit Ausschluß der Ordens-Brevire und sonstige Ordensbücher, welche ich meinem vormaligen lieben Confrater, jetzigen Vicar zu Stromberg Herrn Dunheuft legire."(8) Es handelt sich also um die Privatbibliothek Arnold Boemkens und nicht um einen Teil der Marienfelder Klosterbibliothek! Boemken verstarb den 27. August 1826 in Wiedenbrück, so dass die Bücher 1826/27 in die alte Dechanei nach Harsewinkel gekommen sein dürften. Um Raum für die Pfadfinder zu schaffen, wurden sie Ende der 60er Jahre unseres Jahrhunderts von dort, wo sie zuletzt in einer kleinen Kammer gestanden hatten, auf den Sakristeiboden verbracht.

Die Bibliothek umfasst 151 Titel mit rund 300 Bänden. Das älteste Werk, die Koberger-Bibel, erschien im Jahre 1513, das jüngste 1825. Die meisten Bücher stammen jedoch aus dem 17./18. Jahrhundert und sind in lateinischer oder französischer Sprache verfasst. Alle Sparten der Theologie sind hier vertreten: Bibelwissenschaft, Dogmatik, Moraltheologie, Kirchenrecht und Kirchengeschichte, Liturgie, Pastoraltheologie und Predigtwerke, sowie geistlich-erbauliche Literatur. Daneben finden sich auch antike Klassiker mit den dazugehörigen Grammatiken und Schöngeistiges.

Prachtstück der Bibliothek ist zweifellos die mit qualitätsvollen Holzschnitten reich ausgestattete und prächtig illuminierte lateinische Bibel aus dem Hause Koberger. Anton Koberger gehört zu den eindrucksvollsten Gestalten des deutschen Buchwesens.(9) Einer alten Bäckersfamilie entstammend, wurde er zwischen 1440 und 1445 in Nürnberg geboren. Ohne eine besondere Ausbildung genossen zu haben, baute er in kurzer Zeit ein wohlorganisiertes Buchhandels- und Verlagsnetz auf, das von den Niederlanden bis Polen, von Norddeutschland bis Oberitalien reichte. Feste Agenturen unterhielt er in Wien, Dresden, Krakau, Venedig, Lyon und Paris. Seit 1470 betrieb er in seinem Haus am Ägidienhof in Nürnberg eine eigene Druckerei, wo er zuletzt mit 24 Pressen und an die hundert Gesellen gearbeitet haben soll. Da auch diese Kapazität nicht ausreichte, gab er daneben noch Werke in Auftrag. Die Zahl der von ihm gedruckten Titel wird auf 200 - 250 geschätzt. Koberger war bekannt für seine Illustrationen, deren Vorlagen er u. a. in den Kunstzentren Köln und Ulm herstellen ließ. Die berühmte Weltchronik von Hartmann Schedel, die 1493 erschien, enthält 1809 Holzschnitte! Seine deutsche Bibel von 1483 zählt zu den bedeutendsten vor Luther und war wegen ihrer künstlerischen Ausstattung sehr beliebt und weit verbreitet. Man schätzt ihre Auflage auf 1000 - 1500; in öffentlichem Besitz befinden sich weltweit noch etwa 150 Exemplare. Im Jahr 1504 gab Koberger die eigene Druckerei in Nürnberg auf. Als Grund dafür werden geschäftliche Rückschläge genannt. Sicher spielte auch die angestrebte Aufnahme ins städtische Patriziat eine Rolle: Die Buchherstellung galt nämlich als "Handwerk", der Großbuchhändler hingegen wurde von den Patriziern akzeptiert. Hochgeachtet starb Anton Koberger am 3. Oktober 1513 in Nürnberg.

Wenige Wochen vor seinem Tod [am 3. Tag vor den Kalenden des September, das ist der 30. August 1513], hatte der Drucker Jakob Sacon in Lyon - er arbeitete seit 1509 für Koberger - unsere Bibel feriggestellt.(10) Es war dies bereits die zweite bei Sacon gedruckte Ausgabe der "Vulgata" - so nennt man die lateinische Übersetzung des Hl. Hieronymus - in der überarbeiteten Fassung des gelehrten Venezianer Dominikaners Alberto Castellano († 1522). Die erste, im Jahr zuvor erschienene Auflage war offenbar bereits vergriffen!

Die Bibel hat Buchdeckel aus Eichenholz, das außen mit geprägtem Leder floraler Motivik und innen mit Pergament überzogen ist. Auf die Deckel wurden jeweils sogenannte Buckel angebracht, die den schönen Einband beim Auflegen des Buches schützen sollten. An der Schmalseite befinden sich zwei Scharniervorrichtungen aus Leder und ziseliertem Messing, mittels derer das Buch fest geschlossen bzw. "aufgeschlagen" werden kann - man schlug mit der Handkante zwischen die Verschlüsse, worauf diese aufsprangen. Die Bibel zählt 317 römisch bezifferte Blätter, also 634 Seiten - Seitenzahlen gibt es noch nicht. Das Titelblatt wie die Blätter 246-248 fehlen. Glücklicherweise wurden damals alle Angaben, die sonst der Titel bringt, am Ende des Werkes wiederholt. Datierung und Zuordnung der Bibel wären sonst mit größeren Schwierigkeiten verbunden gewesen.

Der Text enthält zahlreiche handkolorierte Holzschnitte von auffallender Qualität. Auf zwei Weisen wurde in der Werkstatt Kobergers koloriert: Die einfachere und kostengünstigere Version verwendete Purpurrot, Seegrün und Ockergelb, bei der reicheren und weit teureren, wie sie unsere Bibel aufweist, wurde diese Farbskala um ein leuchtendes Blau, Zinnober, Hellgelb, Braun und verschiedene Grüntöne erweitert. Das Blau war besonders kostbar, denn diesen Farbstoff konnte man nicht selbst herstellen; er mußte aus Portugal importiert werden.

Vor jedem Kapitel der Hl. Schrift steht eine kurze Zusammenfassung des Inhalts in roten Buchstaben - daher der Name "Rubrik".(11) Der lateinische Text wird nicht in extenso gegeben, sondern unter Verwendung zeitgenössischer Standards abgekürzt. Da es noch keine Versnummerierung gab, erfolgen die Querverweise mittels Buchstaben, die gemäß dem Alphabet jedem Abschnitt eines Kapitels zugeordnet werden, wobei jedes Kapitel mit "A" einsetzt: Der Vers, auf den verwiesen wird, findet sich in dem durch den Buchstaben bezeichneten Abschnitt. Umfangreiche Register erleichtern die Benutzung.

Dem Pergament des hinteren Buchdeckels zufolge, gehörte unsere Bibel 1534 einem Heinrich Kunsebroich bzw. Kunsebrock aus Brockhagen, der einige Spuren im Text - Korrekturen und Bemerkungen - hinterlassen hat. Schon 1537 hatte sie ihren Eigentümer gewechselt und befand sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert im Besitz der Familie Boemken.

Eine weitere große und gut erhaltene lateinische Bibel des 16. Jahrhunderts mit prächtigem Ledereinband fand sich auf dem Sakristeiboden. Sie wurde 1540 in Antwerpen hergestellt, ist nicht so reich illustriert wie die Koberger und gehörte  einst Pfarrer Jakob Schulte in Warendorf.(12) Auch zwei deutsche mit Holzschnitten bzw. Kupferstichen ausgestattete Bibeln aus den Jahren 1705 und 1730 enthält die Bibliothek. Letztere ist eine im katholischen Raum geradezu "klassisch" gewordene Übersetzung und stammt von dem seinerzeit bekannten Theologen und Dominikaner Johannes Dietenberger, der 1475 in Frankfurt a.M. geboren wurde und 1537 als Professor in Mainz starb.(13) Dietenberger, Mitverfasser der kaiserlichen "Confutatio" - der "Zurückweisung" des reformatorischen Bekenntnisses auf dem Augsburger Reichstag - wollte damit eine Alternative zu Luther bieten. Die Bibel erschien erstmals 1534 in Mainz und wurde die verbreitetste katholisch-deutsche Bibel. Bis ins 19. Jahrhundert erlebte sie 58 Auflagen!

Aus dem "Gotteslob" ist vielleicht der Herausgeber der 1705 in Bamberg wieder aufgelegten Bibel, Kaspar Ulenberg, bekannt.(14) Als Sohn lutherischer Eltern 1548 in Lippstadt geboren, konvertierte er 1572 in Köln, wurde Priester und brachte es dort bis zum Professor und Rektor der Universität. Er starb 1617. Seine geistlichen Lieder werden noch heute im Gottesdienst gesungen.

Anhand der Bibliothek Boemkens könnte man weite Teile der Theologiegeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts skizzieren. Hier soll jedoch nur auf einige wenige Werke bzw. Autoren näher eingegangen werden.

Gleich zwei bedeutende Werke eines Autors, der einst als der gelehrteste Jesuit seiner Zeit gefeiert wurde, heute jedoch ganz in Vergessenheit geraten ist, sind Bestandteil de Harsewinkeler Bibliothek. Es handelt sich um die "Institutiones linguae graecae", ein klassisches Lehrbuch der griechischen Sprache, und das dreibändige Werk "De cruce Christi" von Jakob Gretser.(15) 1562 in Markdorf am Bodensee geboren, trat Gretser mit 16 Jahren dem noch jungen Jesuitenorden bei und machte rasch akademische Karriere. An der Universität Ingolstadt lehrte er mit großem Erfolg Philosophie, Moral und Dogmatik, doch machte er auch als Philologe, Liturgiker, Historiker und Verfasser zahlreicher Dramen, sowie als Herausgeber und Übersetzer von sich reden. Kaiser Ferdinand II. (1578-1637), den er einst unterrichtet hatte, blieb ihm zeitlebens verbunden und Papst Klemens VIII. (1536-1605), bei dem er in hohem Ansehen stand, verpflichtete seine Oberen nachdrücklich zur besonderen Sorge für seine oft leidende Gesundheit. Gretsers Arbeit war von dem Anliegen beherrscht, die Wahrheit des katholischen Glaubens gegenüber dem Protestantismus zu erweisen. Darin war er - zumal als Jesuit - ganz Kind seiner Zeit. Er verfiel aber, schon von Hause aus derb-urwüchsigen und aufbrausenden Charakters, häufig in einen derart polternden und polemischen Stil, dass er so manchem den Blick auf den wissenschaftlichen Gehalt seiner Aussagen verstellte und seinem Ruf großen Schaden zufügte. Selbst sein Lehrbuch der griechischen Sprache verfolgte einen apologetischen Zweck: es sollte als katholische Alternative die meist protestantischen Unterrichtswerke aus den Gymnasien verdrängen. Das Buch war außerordentlich erfolgreich: 1593 in Ingolstadt zum erstenmal erschienen, konnte es sich vierhundert Jahre lang behaupten! Die letzte Auflage erfolgte 1887 in Barcelona. Die umfangreichste und wohl eindruckvollste seiner rund 230 hinterlassenen Schriften, hat Gretser dem Kreuze Christi gewidmet. Unsere Bände datieren aus den Jahren 1600 bis 1605. Hier hat Gretser eine Fülle archäologischer, kirchengeschichtlicher und liturgischer Forschungen verarbeitet, um die Verehrung des Kreuzes, sowie den vielfältigen Gebrauch des Kreuzzeichens in der katholischen Kirche den Protestanten gegenüber zu rechtfertigen. Daneben enthält dieses Werk aber auch geistlich-asketische Passagen, so dass in Regensburg noch 1886 Auszüge zu einem "Mahn- und Trostbüchlein für alle Kreuzesträger" zusammengestellt wurden.

"Hier in der Umgegend wütet stark die Pest, etwas gelinder in unserer Stadt. […] das Elend ist schon so groß, dass man den Tod nicht fürchtet, zumal wenn man von diesem Leben nichts erwartet."(16) So schrieb am 29. September 1635 Paul Laymann aus Konstanz, wohin er vor den Schweden - wir befinden uns im Dreißigjährigen Krieg - geflohen war. Zwei Monate später erlag auch er dem schwarzen Tod. Der 1575 in Arzl bei Innsbruck geborene Sohn eines erzherzoglichen Rates war gegen den Widerstand seiner Familie dem Jesuitenorden beigetreten und hatte als Professor 16 Jahre Moraltheologie in München, dann Kirchenrecht in Dillingen gelehrt. Er war Beichtvater Kaiser Ferdinand II. Noch in München wurde 1625 sein Hauptwerk gedruckt, die zweibändige "Theologia moralis", die bis ins 18. Jahrhundert viele Auflagen erlebte (11. Auflage 1748!) - unser Exemplar repräsentiert die dritte Auflage und erschien 1630 in Münster. Noch 1891 urteilt das führende katholische Kirchenlexikon von Wetzer und Welte, dieses Werk von seltener Klarheit und Präzision verschaffe Laymann einen Ehrenplatz unter den klassischen Autoren dieser theologischen Disziplin.(17)

Besondere Bedeutung erlangten Laymanns Ausführungen zu den Hexenprozessen, zu deren Ende er neben seinen zeitgenössischen Mitbrüdern und Kollegen Adam Tanner (1572-1632) und Friedrich Spee (1591-1653) beigetragen hat.(18)

War Laymann in der ersten Auflage seiner "Theologia moralis" noch mit 14 Paragraphen zu diesem Thema ausgekommen, so benötigte er nur fünf Jahre später in der dritten Auflage schon 43! Dies wirft ein Licht auf die Dringlichkeit des Problems.

Zunächst behandelte er nur die Frage, wie sich der Beichtvater verurteilten Hexten gegenüber zu verhalten habe. Klagten die Frauen über ungerechte Verfahren, so habe sich der Seelsorger darum nicht zu bekümmern, denn dies sei nicht seine Sache. Auch wenn er selbst von der Unschuld einer Verurteilten überzeugt sei, die sich auf der Folter schuldig bekannt habe, solle er nicht zum Richter gehen, da es ja doch nichts nütze und dadurch nur unaufrichtige Beicht bzw. Gefährdung des Beichtgeheimnisses gefördert würden. Der Seelsorge möge die Person damit trösten, dass auch die Märtyrer unschuldig gelitten hätten.

Auch Laymann bestritt nicht die Existenz sogenannter "Unholde", noch stellte er die Folter als Instrument der Wahrheitsfindung in Frage. Er mahnte vielmehr angesichts zunehmender Hexen-Hysterie zu äußerster Vorsicht und Mäßigung. Nur gewichtige Indizien dürften den Richter zum Einschreiten veranlassen; bestehe auch nur der geringste Zweifel daran, dass tatsächlich ein Verbrechen begangen worden sei, könne man dieses nicht einfach voraussetzen und daraufhin eine Untersuchung einleiten. Auch sei es unzulässig, mit dem peinlichen Verhör schon unmittelbar nach der Festnahme der Angeklagten zu beginnen, denn diese seien so erschreckt und verwirrt, dass es nur zu ihrem Schaden ausfallen könne. Man müsse ihnen daher wenigstens ein bis zwei Tage Zeit lassen, sich zu fassen und in Ruhe zu überlegen. Die Mittel zur Verteidigung müssten vor der Folter gewährt werden und diese dürfe nicht so hart ausfallen, dass es von vornherein unmöglich sei, sie zu ertragen, denn so treibe man Unschuldige zu falschen Aussagen. Während der Tortur dürften keine Geständnisse aufgenommen und in die Akten eingetragen werden, insbesondere dann nicht, wenn sie Angaben über Mitschuldige enthielten. Laymann wandte sich mit Vehemenz gegen die verhängnisvolle Praxis, unter der Folter nach der Mittäterschaft bestimmter Personen zu fragen: das heiße nicht Untersuchung, sondern Unterschiebung. Auf solche Weise erfolgte Anklagen müssten als null und nichtig erachtet werden.

Derartige Versuche, den Hexenprozess in juristisch vernünftige Bahnen zu lenken, machten bald den Unsinn des Hexenglaubens überhaupt deutlich. Die letzten Prozesse fanden Ende des 18. Jahrhunderts statt.

Ein unscheinbares kleines Taschenbüchlein mit graublauem Pappeinband enthält nicht weniger als eine gedrängte Zusammenfassung der Welt- und Kirchengeschichte, ja des gesamten historischen, genealogischen und geographischen Wissens seiner Zeit, des 17. Jahrhunderts. "Historiae universalis cum sacrae tum profanae nucleus" bzw. "Der ganzen Universalhistorie Nusskern" ist dieses begehrte und seit 1650 immer wieder aufgelegte Handbuch betitelt. Unser Exemplar erschien in Ulm 1652. Der Autor, Gabriel Bucelin, gilt noch heute als der gelehrteste Mönch der altehrwürdigen Benediktinerabtei Weingarten, in die er 1612 im Alter von dreizehn Jahren eingetreten war.(19) Pater Gabriel war nicht nur Historiker, Hagiograph und Genealoge, sondern auch Architekt und Baumeister, Kartograph, Maler, Dichter und Musiker. Die Zeichnungen der Wappen, Stammtafeln, Grundrisse und Landkarten, die seine Werke schmücken, hat er selbst angefertigt. Man schätzte ihn als Prediger und Redner, vertraute ihm Klosterreformen und diplomatische Aufträge an, berief ihn zum Novizenmeister und Sekretär des Abtes, zum Professor und Prior in Feldkirch - kurz ein Universalgenie. Als er nach einem erfüllten Leben 1681 im Alter von 82 Jahren starb, hinterließ er an die 290 Schriften!

Der "Nucleus" war eines seiner liebsten Werke. Am 1. Januar 1643 hatte er mit den ersten Aufzeichnungen begonnen und schon im Februar des folgenden Jahres erhielt er vom Abt den Auftrag, das Buch zu veröffentlichen und Kaiser Ferdinand III. (1608-1657) zu widmen. Dem Drängen seiner Freunde und den wiederholten Bitten seines Verlegers Görlin zum Trotz, konnte er sich jedoch erst zwei Jahre später (1646) entschließen, das Manuskript in diesen unsicheren Kriegszeiten - er selbst war gerade vor den Schweden in die österreichische Abtei Admont geflohen - nach Ulm zu senden. In öffentlichen Bibliotheken wird das Büchlein als Rarität behandelt und nur unter besonderen Bedingungen ausgegeben.

"Opera omnia", gesammelte Werke - so sind lapidar zwei große Bände betitelt, welche Johann Texelius 1686 in Rotterdam herausgab. Sie sind für die neuzeitliche Exegese - der Wissenschaft von der Auslegung der Hl. Schrift - von großer Bedeutung. Es handelt sich um die erste lateinische Ausgabe von Schriften des anglikanischen Priesters John Lightfoot (er lebte von 1602-1675).(20) Lightfoot, der Zeit seines Lebens mehr in der praktischen Seelsorge als im akademischen Beruf stand, war der Überzeugung, dass die schwierigen Stellen des Neuen Testaments nur dann richtig verstanden werden könnten, wenn man die Sprache und Vorstellungen der Juden jener Zeit genau kenne, und diese fand er im Talmud und in der rabbinischen Literatur. Er studierte orientalische Sprachen und öffnete als einer der Ersten diese reichen, für die Auslegung der Schrift noch kaum benutzten Quellen. Damit war die Aufgabe in Angriff genommen, die geschichtlichen Verhältnisse in der Umwelt des Urchristentums nicht den späteren Angaben der Kirchenväter folgend, sondern nach zeitgenössischen Quellen zu beschreiben und neutestamentliche Aussagen in diesem Kontext zu interpretieren. Mit dieser Pionierarbeit hat Lightfoot bereits zahlreiche wichtige Erkenntnisse gewinnen können. Etwa die, dass das aramäische Wort "Abba", mit dem Jesus Gott anspricht, bei den Juden ausschließlich für den natürlichen Vater gebraucht wurde oder, dass die Taufe des Johannes und der Urkirche durch Untertauchen erfolgte. In Anerkennung seiner Verdienste wurde Lightfoot 1654 Vizekanzler der Universität Cambridge und Domherr Ely.

Auf heute noch gefährliches Terrain begeben wir uns mit einem Werk, das streng genommen in der Bibliothek eines braven Katholiken gar nichts zu suchen gehabt hätte, stand es doch bereits seit dem Jahre 1703 auf dem römischen Index der verbotenen Bücher! Einer der größten Kanonisten seiner Zeit, der 1646 in Löwen geborene Zeger Bernhard van Espen(21), Priester, Doktor beider Rechte und Professor an der Universität daselbst, ein zurückgezogener, ganz seinen Studien lebender Mann, dessen Rat Fürsten, Bischöfe und Gelehrte suchten, hat es verfasst und damit den Zorn Roms herausgefordert. Vom Priesteramt suspendiert, aller seiner Ämter enthoben und erblindet starb er 1728 im Exil. In seinem Lehrbuch des Kirchenrechts "Ius ecclesiasticum universum", das uns in einer Kölner Ausgabe aus dem Jahre 1702 vorliegt, vertrat Espen, wie schon viele Theologen vor ihm, auf der Grundlage umfangreicher kirchen- und rechtsgeschichtlicher Studien die Auffassung, dass die oberste Gewalt in der Kirche nicht allein dem Papst, sondern der Gemeinschaft der Bischöfe zukomme, der Bischof von Rom also an Konzilsbeschlüsse gebunden sei. Zudem sprach er dem Pontifex maximus jedes Recht zur Einmischung in weltliche bzw. politische Angelegenheiten außerhalb des Kirchenstaates ab. Zwar verdammte Papst Klemens XII. (1662-1740) 1734 sämtliche Schriften Espens, doch wurden diese dadurch in der Wertschätzung. die sie in Fachkreisen nach wie vor genossen, kaum beeinträchtigt. Schon der Nachfolger dieses Papstes, Benedikt XIV. (1675-1758), selbst Kanonist, erkannte ihren wissenschaftlichen Rang ausdrücklich an.

"Heute geschieht es oft […], dass die Eltern ihre Kinder für Abgötter halten und aus lasterhaften Fratzen einen Götzen machen. Wie verhätschelt und verzärtelt man nicht heutzutag die Kinder! Der Lehrer oder Erzieher darf sie nicht bös anschauen". Nicht von einem gestressten Pädagogen unserer Tage, sondern von Johann Ulrich Megerle, besser bekannt unter dem Namen Abraham a Sancta Clara, stammt dieses Äußerung.(22) Man findet sie in der "Lauber-Hütt, ein Tisch mit Speisen in der Mitt", einer Sammlung von Predigten dieses berühmten Augustinermönchs, die nach seinem Tode 1721-1723 herausgegeben wurde.

Auch sein 1695 abgeschlossenes satirisches Hauptwerk "Judas, der Ertz-Schelm" ist Bestandteil der Bibliothek.

1644 als achtes Kind eines Gastwirts in einem Dorf bei Meßkirch geboren, ermöglichte ihm sein Onkel, der Canonicus Abraham Megerle (1607-1680), seinerzeit ein bekannter Kirchenkomponist, den Besuch des Gymnasiums, so dass er aus Dankbarkeit dessen Namen annahm. Abraham a Sancta Clara gilt als der volkstümlichste und sprachgewaltigste christliche Kanzelredner deutscher Sprache im 17. Jahrhundert - die "abrahamitische Predigt" war bis weit in unser Jahrhundert hinein sprichwörtlich. 1677, im Alter von 33 Jahren, wurde er kaiserlicher Hofprediger und wirkte vor allem in Wien und Graz. Daneben war er Theologe von Rang und übernahm in seinem Orden hohe Ämter. Seine Schriften sind ein unerschöpfliches Quellenmaterial für die Kultur- und Sittengeschichte des süddeutschen Hochbarock. Friedrich von Schiller (1759-1805) hat die kraftvolle Persönlichkeit Abraham a Sancta Claras in der Rolle des Kapuziners in "Wallensteins Lager" wiederaufleben lassen.

Zum Schluss noch ein Hinweis auf eine Kuriosität, nämlich Ludwig von Holbergs "Jodiske Historie", eine zweibändige Geschichte des Jüdischen Volkes in dänischer Sprache, die 1742 in Kopenhagen verlegt wurde. Dass ein gelehrter Marienfelder Zisterzienser des 18. Jahrhunderts der lateinischen und französischen Sprache mächtig war, versteht sich von selbst - aber Dänisch? Vielleicht ist das Vorhandensein dieser Bände auch der Reputation ihres Verfassers zu verdanken. Der 1684 im norwegischen Bergen geborene Holberg hatte nach seinem Theologiestudium mehrere große Reisen durch Europa unternommen und lehrte seit 1717 Philosophie und Geschichte an der Universität zu Kopenhagen. Als führender Vertreter der Aufklärung in Dänemark, schrieb er seine historischen Werke auf solider quellenkritischer Basis. Durch sie, mehr noch aber durch seine zahlreichen Komödien, in welchen er etwa im Stile eines Molière (Jean-Baptiste Poquelin, 1622-1673) seine Zeitgenossen karikierte, gilt er heute als Begründer der dänischen Nationalliteratur.(23) In den Freiherrenstand erhoben starb Holberg 1754.

Anmerkungen:
(1) Leicht überarbeitete Fassung des Vortrags vom 30.3.1995. Der Vortrag ist veröffentlicht in: Gottfried Josef Minkenberg (Hrsg.): Historische Bibliothek der Pfarrgemeinde St. Lucia Harsewinkel (= Veröffentlichungen der Diözesanbibliothek Münster; 1), Münster 1997, S. 7 - 18.
(2) Vgl. Werland, Walter: Campus s. Mariae. Marienfelder Chronik, Marienfeld 2 1981, S. 182, 277.
(3) Vgl. ebd., S. 269.
(4) Vgl. Testament von 1819, § 3.
(5) Pfarrarchiv Harsewinkel, A 203.
(6) Vgl. ebd., § 1.
(7) Vgl. ebd., § 2.
(8)  Ebd. Der 1779 in Warendorf geborene Johann Heinrich Dünheuft starb übrigens als letzter Marienfelder Möbch 58 Jahre nach Aufhebung des Klosters 1861. Vgl. Werland, Marienfeld, S. 12, 148, 183, 279, 347.
(9) Vgl. Hase, Oscar: Die Koberger. Eine Darstellung des buchhändlerischen Geschäftsbetriebes in der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, Leipzig 2 1895; Lexikon für das gesamte Buchwesen Bd 2, Stuttgart 1993, S. 256 (Corsten).
(10)  Vgl. Hase, Koberger, S. 451.
(11)  Lateinisch "ruber" (rot).
(12) Ein Caspar Schulte (1757-1821) war Zisterzienser in Marienfeld und seit dem 19.2.1800 Subprior. Durch ihn könnte diese Bibel in die Bibliothek Boemkens gekommen sein. Vgl. Werland, Marienfeld, S. 277.
(13) Vgl. Wedewer, Hermann: Johann Dietenberger 1475-1537, Freiburg 1888; Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, S. 667 f. (Trusen).
(14) Vgl. Solzbacher, Joseph: Kaspar Ulenberg, eine Priestergestalt aus der Zeit der Gegenreformation in Köln, Münster 1948.
(15) Vgl. König, Hermann: Jakob Gretser SJ (1562-1625). Ein Charakterbild. In: Freiburger Diözesanarchiv 77 (1957), S. 136-170. (Bildnis S. 138).
(16) Zitiert nach Duhr, Bernhard: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, Bd. II/2, Freiburg/Br. 1913, S. 389.
(17) Vgl. Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon, Bd. 7, Freiburg/Br. 1891, Sp. 1555 (Pfülf).
(18) Vgl. hierzu v.a. Duhr, Jesuiten, S. 521 ff.
(19) Vgl. Stump, Thomas: Gabriel Bucelin. In: Festschrift Weingarten 1956-1956, Weingarten 1956, S. 370-295 (Bildnis).
(20) Vgl. Dictionary of National Biographie, Bd. 11, London 1909, S. 1108-1110; Kümmel, Werner Georg: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, München 1958; S. 36 f.; Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Bautz u. Traugott Bautz, Bd. 5, Herzberg 1993, Sp. 55-57.
(21) Vgl. Biographie nationale. Publiée par l’Académie de Belgique, Bd. 6, Bruxelles 1878, Sp. 699-705 (Stappaerts); Bautz, Kirchenlexikon, Bd. 1, Hamm 1975, Sp. 1543 f.
(22) Neueste Literatur: Eybl, Franz M.: Abraham a Sancta Clara. Vom Prediger zum Schriftsteller. Tübingen 1992.
(23)  Vgl. Holberg, Ludwig: Nachricht von meinem Leben. In drei Briefen an einen vornehmen Herrn. Mit einem Essay von Georg Brandes, Frankfurt/M. 1926 (Bildnis);
Bamberger, Angelika: Ludvig Holberg und das erste dänische Nationaltheater, Frankfurt/M. 1983.

  • Pressebericht: Kostbare Koberger-Bibel von 1513 aufgetaucht
  • Pressebericht: "Letzter" Blick auf kostbare Buchschätze
  • Pressebericht: Bibliothekar stolz auf Bücherschatz von St. Lucia
  • Pressebericht: Kathalog zur Bibliothek St. Lucia erschienen

 

 

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